Ich kann mich noch gut erinnern, wie lange ich gebraucht habe, um zu akzeptieren, dass ich tatsächlich in einem Burnout bin. Ohne viele Burnout-Opfer persönlich zu kennen, hatte ich so mein Bild: Perfektionistisch, unglücklich im Job, überfordert vom Spagat zwischen Beruf und Familie, keine Unterstützung durch Ehepartner oder Umfeld, finanzielle Sorgen… All das traf auf mich keineswegs zu. Seit 23 Jahren den richtigen Mann an der Seite, zwei tolle Kinder, ein gutes Netz aus Freunden und Verwandten, einen Job, in dem ich mich voll entfalten konnte und der mir richtig Spaß machte, einen in jeder Hinsicht tollen Chef und eine super Team von Arbeitskollegen.
Begonnen hat meine Krankengeschichte mit immer wiederkehrenden kurzen Schwindelattacken. Wie kleine Stromschläge in den unterschiedlichsten Situationen. Die Einschätzung meiner Hausärztin war ernüchternd: „Bei ihrem Pensum ist das die Psyche. Sie sind nicht mehr die Jüngste. Sie müssen sich ab und zu mal Pausen gönnen und vielleicht ein bisschen Sport treiben.“ Ich kam mir leicht veräppelt vor, meine sehr realen Leiden auf meine Psyche zu schieben, wo ich doch nichts Schlimmes auszustehen hatte. Dann kamen Sehstörungen hinzu. Zeitweise Doppelbilder, ein Flimmern am Rand des Gesichtsfeldes und kleine Fetzen, die durch das Bild schwammen. Als dann auch noch mein Puls immer mal wieder unter die 50 Schläge pro Minute geriet und ich mich wie kurz vor dem Umfallen fühlte, war es mit der Ruhe vorbei. Ich begann mir echte Sorgen um meine Gesundheit zu machen, wobei ich natürlich vom Schlimmsten ausging.
Eines Montag morgens, als es mir wieder vor den Augen flimmerte und meine Herzschlag immer wieder absackte, verlor ich mitten im Meeting und vor den Augen meiner Kollegen die Kontrolle. Es folgte meine erste Panikattacke. Meine Kollegen leisteten erste Hilfe und verständigten den Notarzt. Von da aus ging es ins Krankenhaus. Dort wurde mein Herz von allen Seiten beleuchtet, ein Schlaganfall ausgeschlossen und das Blut untersucht. Dass der Überwachungsmonitor neben mir immer wieder Alarm schlug, weil mein Puls abfiel, machte den Ärzten nur wenig Sorgen. Bei gut trainierten Menschen sei das so. Nur eben, dass ich schon seit Jahren keinen Sport mehr getrieben hatte und es sich für mich jedes Mal anfühlte, als würden mir gleich die Lichter ausgehen. Nach vier Tagen wurde ich entlassen, mit der Empfehlung noch ein MRT durchführen zu lassen, um einen Hirntumor auszuschließen. Außerdem sollte ich mich gesünder ernähren, Sport treiben und eine Soletherapie machen. Auf dem Heimweg vom Krankenhaus hatte ich meine zweite Panikattacke.
In den folgenden Tagen spitzte sich die Lage zu. Ich hatte kurze Sprachaussetzer, Gefühlsstörungen im rechten Arm und Bein, kleine Zuckungen im Kopf und panische Angst, an einer ernsten Krankheit zu leiden. Ich fühlte mich in Räumen und zwischen Menschen auf einmal unsicher und unwohl und hatte große Konzentrationsschwierigkeiten. Beim Autofahren konnte mein Kopf die vorbeiziehenden Bilder nicht schnell genug verarbeiten, so dass ich mich als Gefahr für den Straßenverkehr sah. Mein Selbstvertrauen rutschte in den Keller. Meine Ärztin sah mich mit dem Hab-ich-ihnen-doch-gleich-gesagt-Blick an, stellte mir eine Überweisung zum Psychiater aus und verschrieb mir ein Beruhigungsmittel. Als ich las, dass das Mittel zur Gruppe der Antidepressiva gehörte, ging es mir gleich noch ein wenig schlechter und ich schwor mir, die Hände davon zu lassen. Dass ich ganz reale körperliche Beschwerden hatte, schien kaum zu interessieren. Auch im Krankenhaus konnte ich beobachten, dass die schulmedizinische Diagnose „Somatoforme Störung“ sofort steht, wenn man als Mutter von zwei Kindern voll berufstätig ist.
Also befragte ich Dr. Google. Und siehe da, gleich die erste Recherche war erfolgreich. Demnach haben viele Frauen ähnliche Symptome, die, wie ich, unter eine Schilddrüsenunterfunktion leiden und eine Hormonspirale tragen. In dieser Kombination wird das künstliche Hormon der Spirale schlechter vom Körper abgebaut. Das bringt den Haushalt der Stress-und Geschlechtshormone durcheinander, was dem Körper und der Psyche schwer zusetzen kann. Ich dachte, nichts leichter als das, und setzte mich noch am selben Tag bei meiner Frauenärztin ins Wartezimmer, um mich dieses Problems zu entledigen. Leider war das Ding verrutscht, so dass ich einen OP-Termin im Krankenhaus brauchte. Die Entfernung konnte erst zwei Wochen später unter Vollnarkose durchgeführt werden. Ich hatte danach kurz das Gefühl, mich besser zu fühlen, doch es hielt nicht an.
Schweren Herzens machte ich mich auf die Suche nach einem Psychiater. Google spuckte erstaunlich viele Adressen in meinem Umkreis aus. Wenn man 5-6 Wochen Zeit mitbringt, bekommt man auch einen Termin. Nur eben war ich voller Hoffnung, in wenigen Tagen wieder arbeitsfähig zu sein, da mir mein Job doch sehr fehlte. Also ließ ich meine Beziehungen spielen und bekam kurzfristig einen Termin in der Ambulanz einer psychiatrischen Klinik. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber doch deutlich mehr als das, was mir bei meiner ersten Psychiater-Begegnung geboten wurde. Ich lernte, dass Psychiater vorrangig spezialisierte Apotheker sind. Die Hauptaufgabe dieser Fachgruppe ist es, aus dem Spektrum an Psychopharmaka die Pille zu finden, die am besten zu den beschriebenen Problemen des Patienten passt. Der Behandlung und Heilung widmen sich die Psychotherapeuten, die allerdings nicht zwingend eine medizinische Ausbildung haben. Eine unglückliche Kompetenzteilung für Patienten wie mich, bei denen vor allem der Körper rumspinnt. Da ich mich keineswegs depressiv fühlte und Tabletten als aller letzten Ausweg einstufte, bekam ich nur ein paar Prospekte über die Vorzüge der Antidepressiva mit. Bei einigen Präparaten glaubt man bereits zu wissen, wie sie im Körper wirken. Bei anderen hat man lediglich festgestellt, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen. Der Wirkmechanismen im Körper ist aber bis heute völlig unklar. Sehr vertrauensbildend. Auch das Angebot, mich in der angeschlossenen Tagesklinik behandeln zu lassen, schlug ich aus.
Trost fand ich bei meinem Heilpraktiker. Zu ihm war ich gekommen, weil ich mal zwei Jahre unter Dauerschnupfen litt und er mit seinem Bioresonanzgerät eine Entzündung in der linken Nasennebenhöhle ausmachte, verursacht durch eine Zahnwurzel. Als mein Zahnarzt die Entzündung bestätigte, war ich schwer beeindruckt. Bis dahin rangierten Heilpraktiker in meiner Wahrnehmung mit Schamanen, Hellsehern und Kräuterhexen auf einer Stufe. Mein Heilpraktiker konnte zunächst keine psychische Störung feststellen, machte aber eine schwerwiegende Hormonstörung aus. Mit seinem Repertoire an Schüssler Salzen und Globulis konnte er lediglich eine Unterstützung des Körpers anbieten. Er stimmte mich darauf ein, dass es eine lange Zeit dauern wird, bis der Körper das Gleichgewicht wieder herstellen kann. Ich dachte nur: Immerhin nicht verrückt geworden.
Zwischenzeitlich hatte ich mich auch mit Panikattacken intensiv beschäftigt und mit Hilfe des Buches „Wenn plötzlich die Angst kommt: Panikattacken verstehen und überwinden“ von Roger Baker zurückdrängen können. Allerdings setzte mir Schwindel und Benommenheit täglich so zu, dass die Angst sich verstetigte und ich unter einer unbeschreiblichen inneren Unruhe litt. Am besten ging es mir, wenn ich beschäftigt war. Das brachte mich zum Schluss, dass ich es einfach wieder mit meiner Arbeit versuchen sollte. Schließlich war ich mittlerweile seit acht Wochen auf Genesungstour. Gesagt, getan. Ich hielt am ersten Arbeitstag genau bis Mittag durch. Ich konnte dem Meeting kaum folgen, geschweige denn etwas beitragen. Mein Kopf schwirrte, meine Ohren pfiffen. Beim Versuch eine E-Mail zu schreiben, verschwamm die Schrift auf dem Monitor und meine Hände zitterten. Meine Kollegen fragten mich besorgt, ob ich tatsächlich wieder fit sei. Und ich musste mir eingestehen: NEIN.
Meine Hausärztin verwies mich erneut an den Psychiater. Der Psychiater erklärte mir, dass ich am schnellsten und besten in der Tagesklinik für psychische Erkrankungen therapiert werden könnte. Dort würde man auch noch einmal auf meine körperlichen Aspekte eingehen und eine intensive Therapie einleiten. Da ich keine Alternative wusste und hoffte, so am schnellsten wieder fit zu werden, stimmte ich zu. Es folgte die schlimmste Erfahrung in meinem bis dato glücklichen und selbstbestimmten Leben.
Schon das Aufnahmegespräch durch den Chefarzt der Tagesklinik kommt mir im Nachgang wie die Episode aus einem bösen Film vor. Ich schilderte ausführlich, welche Beschwerden mich plagten. Der Doktor schaute auf mich nieder und wurde immer unruhiger. Dann platzte aus ihm heraus, dass er endgültig die Nase voll davon hatte, dass die Ambulanz ihn mit Fällen wie mir behelligte. Ich wäre ein klarer Fall für die stationäre Psychiatrie. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, denn ich hatte Zweifel überhaupt in der richtigen medizinischen Fachrichtung unterwegs zu sein. Schließlich hatte ich vorrangig körperliche Beschwerden, die mir Angst bereiteten. Ich war aber trotz allem guter Laune und klaren Verstandes. Insofern war schon die Tagesklinik eine über alle Maßen extreme Maßnahme für mich. Seine Erläuterung war noch besser: Auf Station hat man den besseren Personalschlüssel. Dann erklärte er mir, dass Panikattacken immer nur die Spitze des Eisberges sind. Sicher schleppe ich bereits seit der Kindheit ein verborgenes Trauma mit mir herum. Und wenn ich das jetzt nicht behandeln ließe, werde ich immer wieder in der Psychiatrie landen. Diese Einschätzung widersprach so ziemlich jeder Lektüre, die ich in den vorangegangenen Wochen zum Thema gelesen hatte. Noch toller wurde er, als er feststellte, dass ich bisher keine Antidepressiva eingenommen hatte. Ich versuchte zu erklären, dass ich mich nicht depressiv fühle und neben den Nebenwirkungen fürchte, dass mich die Tabletten noch stärker aufwühlen. Er erklärte mir, dass das kein Problem sei. Alle Medikamente haben Nebenwirkungen und sollten mich die Tabletten aufwühlen, so würde er mir zusätzlich ein Beruhigungsmittel verschrieben. Ich fühlte mich ein bisschen wie McMurphy vor Oberschwester Ratched in „Einer flog über das Kuckucksnest“. Ich lehnte freundlich aber bestimmt ab und fragte nach, welche Diagnosemaßnahmen für meine körperlichen Beschwerden geplant sind. Er schaute mich erstaunt an und sagte ohne Umschweife, dass es nicht seine Aufgabe sei, sich um meine körperlichen Beschwerden zu kümmern. Für ihn sei klar, dass meine Beschwerden psychosomatischer Natur sind und damit keiner separaten Behandlung bedürfen. Ich stieß noch einmal nach, dass vielleicht ein hormonelles Problem in Betracht käme. Herr Doktor schaute mich lächelnd an und sagte, dass bei mir doch schon immer ein Hormonproblem bestünde, oder ob ich glauben würde, dass so viel Testosteron für eine Frau normal sei. Gut, dass ich bereits seit 20 Jahren vorrangig mit Männern zusammengearbeitet habe und viel gewöhnt war. Aus dem Mund eines Arztes war das aber doch ein starkes Stück.
Nach dem Gespräch stand für mich fest, dass ich keineswegs bleiben würde. Der Sozialpädagoge vom sozialen Dienst überzeugte mich, doch wenigstens eine Woche durchzuhalten und den Aufenthalt wie eine Kur zu betrachten. Herr Doktor hätte nur einen schlechten Tag und ihn würde ich auch nur einmal die Woche sehen. Ich ließ mich überreden, aber es wurde nicht viel besser. Ich kam in eine Gruppe von Frauen, die allesamt sehr nett waren und an Krankheiten wie Alkoholsucht, Persönlichkeitsstörung, manischer Depression litten und bereits über Jahre in Behandlung waren, aber nicht mehr in die alte Form zurückgefunden hatten. Der Alltag bestand aus Gruppentherapie, Ergotherapie, Sporttherapie, Entspannungstherapie, psychologischer Theorievermittlung und jeder Menge Freizeit. Eine Stunde pro Woche hatte ich die Therapeutin für mich allein. In den Gruppentherapien schilderten meine Mitpatientinnen ausführlich ihre düsteren Gedanken über das Leben, böse Chefs, furchtbare Kollegen und familiäre Probleme. Die Ergotherapie umfasste Tätigkeiten wie Körbe flechten, Malen oder Nähen und Unkraut jäten rund um die Tagesklinik. Mein Lichtblick war eine Grundschullehrerin, mit der man sich angenehm kurzweilig unterhalten konnte. Ich sehnte täglich das Ende herbei und wurde immer unruhiger. Ich fand abends kaum in den Schlaf und erwachte nachts immer wieder. Die Wahrscheinlichkeit, in dieser Einrichtung meine innere Ruhe und Stärke wieder zu finden, rechnete ich mir auf nahe Null aus. Und so fasste ich nach einer Woche den Entschluss, diese Maßnahme abzubrechen.
Der Doktor war außer sich und wollte mich umgehend gesundschreiben. Er drohte mir an, die Krankenkasse von meinem unverantwortlichen Handeln in Kenntnis zu setzen, so dass ich Probleme mit dem Krankengeld bekomme. Auf eine Therapie außerhalb der Klinikmauern würde ich, seiner Ansicht nach, mindestens ein dreiviertel Jahr warten. Als ich darum bat, weiterhin die Klinik-Therapeutin aufsuchen zu dürfen, lehnte er ab. Ich könne nicht nur die Rosinen picken. Das ging offenbar sowohl der Therapeutin als auch dem Mann vom sozialen Dienst zu weit. Sie vermittelten mich zurück an die Ambulanz, wo ich einen Krankenschein und einen weiteren Therapie-Termin erhielt. Als ich die fünfte Nachfrage, ob ich nicht doch bleiben wollte, ausgeschlagen hatte, verließ ich unendlich erleichtert das Gelände.
Die Erfahrungen in der Tagesklink hatten mir schwer zugesetzt. Ich war so unruhig und unsicher wie zu keinem Zeitpunkt zuvor und ich hatte keinen Plan wie es weitergehen sollte. Meine Arbeitsfähigkeit war so weit weg gerückt, wie ich es mir hätte nicht vorstellen können. Mir war es schwindlig und die Benommenheit ließ mich kaum klare Gedanken fassen. Ich beschloss, es doch mal mit den verschriebenen Antidepressiva zu versuchen. Bereits am Nachmittag nach der erste Einnahme bemerkte ich ein Frösteln und starkes inneres Zittern. Am zweiten Tag wurde es so schlimm, dass ich nachts kurz davor war, den Notarzt zu holen. Ich war aufgewühlt, durchgeschwitzt und hatte das Gefühl, dass Stromstöße durch meinen Körper gehen. Mein Herz raste und ich bekam Todesangst. Gleich am nächsten Morgen rief ich die Psychiaterin an. Sie meinte, dass es bei dem Mittel nur ganz selten zu solch starken Nebenwirkungen kommt. Wenn es aber so ist, soll ich es lieber absetzen und mit einem beruhigenden AD fortsetzen. Mit dem zweiten Mittel hielt ich 4 Tage durch. Ich spürte wie ich mich zu einem Zombi entwickelte und nicht mehr Herr über meine Gefühle war. Ich musste alle Kraft zusammennehmen, um an Gesprächen teilnehmen zu können oder mich zu einer Aktivität zu motivieren. Meine Zuversicht schwand und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, depressiv zu sein. Und so setzte ich auch unter dieses Kapitel einen Schlussstrich.
Meine Hausärztin kam zur Einsicht, dass ich mit Psychiatern erstmal durch bin und nahm mich wieder in ihre Obhut. Sie verpflichtete mich aber, eine Psychotherapie zu besuchen. Die Suche nach einem Therapeuten gestaltete sich abenteuerlich. Ich druckte mir eine Liste von 300 Therapeuten im Umkreis aus und begann wie ein Callcenter-Agent von oben nach unten zu telefonieren. Nach drei Stunden und 30 Telefonaten hatte ich zwei Vorstellungsgespräche für die Folgewoche vereinbart. Geht doch, dachte ich. Es stellte sich aber heraus, dass die Vorstellungsgespräche noch nicht bedeuten, dass man zeitnah eine Therapie bekommt. Also telefonierte ich erneut, bis ich eine Therapeutin fand, die noch einen Therapieplatz frei hatte.
Die Therapeutin war ein echter Glücksgriff. Als ich ihr meine Geschichte erzählt hatte, fragte sie mich noch einmal sehr genau nach all meinen Symptomen aus. Sie stellte fest, dass Schwindel, Benommenheit, Ohrenknacken und Sehstörungen in der von mir beschriebenen Form auf eine Craniomandibuläre Dysfunktion hindeuten. Ich hatte keinen Schimmer was das ist. Sie empfahl mir eine Osteopathin, die auf das Thema spezialisiert ist. Das sollte der entscheidenden Tipp werden, der meine Genesung einleitete. Interessanter Weise kam der Hinweis von der einzigen Mitbehandelnden ohne medizinische Ausbildung.
Die Osteopathin bewirkt wahre Wunder und brachte mir die Zuversicht zurück. Mit einer CMD-Zahnschiene wurde zusätzlich der Kiefer entlastet, um den positiven Effekt zu konservieren. Meine Endokrinologin verschrieb mir ein anderes Schilddrüsenpräparat, meine Frauenärztin behandelte mein Hormonchaos und meine Homöopathin verordnete mir eine Konstitutionsbehandlung. Um meine Selbstheilungskräfte zu stärken, stellte ich meine Ernährung um und setzte auf Akupunktur, Natron-Basenbädern und Atemübungen nach Buteyko. Yoga, Joggen und Radfahren sorgten für den Abbau der Stresshormone. Aber der absolut schwierigste Teil war und ist die psychische Bewältigung der aus dem Ruder geratenen Gefühle, Ängste und Sorgen, die die erfahrene Hilflosigkeit mit sich gebracht hat. Die von der Therapeutin gepriesenen Achtsamkeitsübungen, wie z.B. 10 Minuten auf das Flackern einer Kerze starren und dabei nur an die Kerze zu denken, fielen mir furchtbar schwer. Um meine sorgenvollen Gedanken in den Griff zu bekommen, suchte ich mir stattdessen Tätigkeiten, die mir Spaß machen und meine volle Konzentration erfordern. Ich las wieder Bücher, schaute Filme in Englisch, begann wieder im Chor zu singen und schrieb meine Erfahrungen in diesem Blog auf.
Um für den Wiedereintritt ins Arbeitsleben Kraft zu tanken, beantragte ich eine Rehabilitationsmaßnahme bei der Rentenversicherung. Mir wurde eine tolle Klinik für Psychosomatik und Innere Medizin an der Ostsee zugewiesen. Wegen der schlimmen Erfahrungen in der Tagesklinik fuhr ich ohne Erwartungen und mit einem mulmigen Gefühl dort hin. Aber ich hatte großes Glück. Die Klinik war ein Volltreffer, das Wetter hervorragend, die Ostsee direkt vor der Nase und meine unmittelbaren Mitstreiterinnen wie eine gecastete Truppe aus angenehmen, arbeitswütigen Frauen mit ähnlicher Problemlage. Das allerbeste war aber der Therapeut. Ein 75 Jähriger ehemaliger Psychologie-Professor, der viele Jahre in Indien gelebt und geforscht hat und bis zur Rente als psychotherapeutischer Heilpraktiker tätig war. Für jedes seiner Schäfchen hatte er in Kürze eine plausible Erklärung für die erlebte Misere und einen schlüssigen Therapie-Ansatz parat. Er machte uns mit buddhistischen Ansätzen vertraut, brachte uns die Werke von Eckhart Tolle und Byron Katie nah und führte hypnoseähnliche Traumreisen durch. Nach den fünf Wochen hatte ich erstmals wieder das Gefühl, für den Alltag gerüstet zu sein und mit den neu gewonnen Zipperlein meinen Frieden machen zu können.
Wenn ich nun zurückblicke auf meine heile Welt vor dem Burnout, muss ich mir eingestehen, dass wohl doch nicht alles so perfekt war. Mit den Kindern verbrachte ich früh eine Stunde, die von Zeitdruck und Hektik geprägt war und abends das Abendessen und zu Bett schaffen. Alles andere überließ ich meinem Mann und meiner Schwägerin. Die 10 Stunden auf Arbeit verbrachte ich größten Teils in Meetings, so dass ich konzeptionelle Arbeit und das Beantworten der zahlreichen E-Mails oft erst abends von zu Hause und am Wochenende erledigen konnte. Das Handy war mein ständiger Begleiter, damit ich auf Anfragen umgehend antworten konnte und immer nah am Ball war. Die Arbeit fesselte mich so sehr, dass ich immer später zu Bett ging und meine privaten regelmäßigen Termine, wie Yoga oder Chor, cancelte. Um Zeit zu sparen, erledigte ich jeden Weg mit dem Auto. Bemerkungen meines Mannes, dass mein Pensum doch nicht mehr normal sei und ich bei den Kindern fast alles verpassen würde, ignorierte ich. Schließlich waren die Kinder gut versorgt und mir machte die Arbeit Spaß.
Heute weiß ich, dass die Kombination aus Dauerbelastung (auch positiver!), ungesunder hektischer Ernährung, mangelnder Bewegung, zu wenig Schlaf und fehlender Entspannung zwangsläufig über kurz oder lang zum Crash führt. Zudem verpasst man das wesentliche im Leben, weil der Kopf immer schon in der Zukunft hängt. Ich habe meine Konsequenzen gezogen und meine berufliche Karriere zugunsten einer ausgeglichenen Work-Life-Balance eingeschränkt. Manchmal bin ich regelrecht dankbar für die Krise, denn ohne sie hätte ich beinahe mein Leben verpasst.
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